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Ne bis idem Grundsatz durch EuGH-Urteil eingeschränkt

EuGH lässt im Steuerstrafrecht Ausnahme vom Grundsatz ne bis in idem (keine mehrfache Bestrafung für dieselbe Tat) zu: Urteil vom 20.03.2018, C-524/15.

Gemäß Art. 103 Abs. 3 GG darf niemand wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafbarkeit mehrmals bestraft werden. Art. 103 Abs. 3 GG stellt die grundgesetzliche Verankerung des ne bis in idem-Grundsatzes – Grundsatz der Einmaligkeit der Strafverfolgung – dar. Dieser besagt, dass eine weitere Strafverfolgung gegen denselben Täter wegen derselben Tat unzulässig ist und stellt eines der wichtigsten Prinzipien des deutschen Strafrechtssystems dar. Der Grundsatz erfüllt eine Doppelfunktion. Wurde eine Straftat bereits rechtskräftig abgeurteilt, so schafft ne bis in idem ein Verfahrenshindernis für eine weitere Strafverfolgung. Zudem gewährt der Grundsatz auch ein subjektives verfassungsmäßiges Recht, nicht wegen derselben Straftat mehrfach bestraft zu werden. Auch auf internationaler Ebene ist der ne bis in idem-Grundsatz gesetzlich verankert. Art. 50 der EU-Grundrechtecharta (EU-GRCh) sowie auch Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) haben zum Inhalt, dass niemand wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden darf.

EuGH-Urteil beschränkt Grundsatz ne bis in idem im Steuerstrafrecht

Ein Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH, Urteil vom 20.03.2018 – C-524/15) findet in diesem Zusammenhang nun Beachtung. Es besagt, dass der ne bis in idem-Grundsatz zum Schutz der finanziellen Interessen der Union und ihrer Finanzmärkte unter bestimmten Voraussetzungen beschränkt werden kann. Ein italienisches Gericht hatte dem EuGH im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens die Frage vorgelegt, ob Art. 50 EU-GRCh in Verbindung mit Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK der Möglichkeit entgegensteht, ein Strafverfahren wegen einer Tat durchzuführen, für die der Angeklagte bereits mit einer unwiderruflichen Verwaltungssanktion belegt wurde.

Welcher Sachverhalt lag dem Urteil zugrunde?

Die italienische Finanzverwaltung verhängte gegen einen italienischen Steuerpflichtigen im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens, in welchem ihm vorgeworfen wurde, Mehrwertsteuer nicht innerhalb der gesetzlich festgelegten Fristen abgeführt zu haben, eine Verwaltungssanktion (Bußgeld) in Höhe von 30 % der Steuerschuld. Nach dem endgültigen Abschluss dieses Verwaltungsverfahrens leitete die Staatsanwaltschaft wegen derselben Straftat (Nichtabführung von Mehrwertsteuer) ein Strafverfahren ein. Nach den nationalen Regelungen sind das Verwaltungsverfahren und das Strafverfahren getrennt voneinander durchzuführen. 

Ziel der Gewährleistung der Mehrwertsteuererhebung

Der EuGH führt aus, dass die Mitgliedsstaaten zwecks Umsetzung der Mehrwertsteuersystemrichtlinie (RL 2006/112/EG) dazu verpflichtet sind, Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die die Erhebung der Mehrwertsteuer in dem jeweiligen staatlichen Hoheitsgebiet sichern und Betrug bekämpfen sollen. Zudem sind die Mitgliedsstaaten zur Bekämpfung rechtswidriger Handlungen verpflichtet, die sich gegen die finanziellen Interessen der EU richten. Dabei ist es dem Mitgliedsstaat überlassen, welche Sanktionen er zur Erreichung dieses Ziels wählt. Es kann sich um verwaltungsrechtliche oder strafrechtliche Sanktionen oder auch um eine Kombination aus beiden handeln. 

Voraussetzungen des Art. 50 der Grundrechtecharta

Der EuGH stellt fest, dass Art. 50 EU-GRCh grundsätzlich eine Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen, die strafrechtlicher Natur im Sinne des Artikels sind, gegenüber derselben Person wegen derselben Tat verbietet. Für die Beurteilung der strafrechtlichen Natur einer Maßnahme sind nach Rechtsprechung des EuGH drei Kriterien maßgebend:

  1. die rechtliche Einordnung der Zuwiderhandlung im innerstaatlichen Recht
  2. die Art der Zuwiderhandlung und
  3. der Schweregrad der dem Betroffenen drohenden Sanktion.

Sowohl die Verfolgung im Rahmen des Strafverfahrens als auch die bestandskräftige Verwaltungssanktion sind im hier vorliegenden Fall strafrechtlicher Natur im Sinne von Art. 50 EU-GRCh: Während dies das Strafverfahren betreffend zweifelsfrei zu bejahen ist, sind für die Verwaltungssanktion anhand der oben genannten Punkte weitere Überlegungen anzustellen: Obwohl das Verfahren im italienischen Recht als Verwaltungsverfahren eingestuft wird, sei die Anwendung von Art. 50 EU-GRCh nicht auf innerstaatlich als strafrechtlich eingeordnete Sanktionen beschränkt, sondern auch die Erfüllung der beiden anderen Kriterien sei zu beachten. Im Rahmen der Art der Zuwiderhandlung ist insbesondere zu prüfen, ob die fragliche Sanktion eine repressive Zielsetzung verfolgt, wobei der Umstand, dass daneben auch präventive Aspekte berücksichtigt werden, der strafrechtlichen Einordnung nicht entgegenstehen soll. (Eine Maßnahme, die nur den durch die Straftat entstandenen Schaden ersetzen soll, ist nicht strafrechtlicher Natur.) Zudem lasse die Höhe der Sanktion (30 % der geschuldeten Mehrwertsteuer) auf einen entsprechenden Schweregrad schließen.

Des Weiteren muss es sich um dieselbe Person und dieselbe Straftat handeln. Maßgebend für das Vorliegen derselben Straftat ist nach Rechtsprechung des EuGH das Kriterium der Identität der materiellen Tat, also die Gesamtheit konkreter, miteinander verbundener Umstände, die zu einem Freispruch oder einer Verurteilung des Betroffenen geführt haben. An dem Vorliegen derselben Straftat ändert sich nichts dadurch, dass im Strafverfahren im Gegensatz zum Verwaltungssanktionsverfahren noch ein subjektives Element (Vorsatz) verlangt wird.

Rechtfertigung der Einschränkung des ne bis in idem-Grundsatzes

Eine Einschränkung des ne bis in idem-Grundsatzes gemäß Art. 50 der Grundrechtecharta bedarf jedoch einer den unionsrechtlichen Anforderungen genügenden Rechtfertigung, ist also nur unter bestimmten Voraussetzungen gemäß Art. 52 Abs. 1 S. 1, S. 2 der Grundrechtecharta zulässig. Der EuGH legt die Voraussetzungen fest, die die nationale Regelung erfüllen muss, damit trotz Kumulierung von strafrechtlichen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur ein bestimmtes Schutzniveau für den ne bis in idem-Grundsatz erfüllt ist:

Die Regelung hat eine dem Gemeinwohl dienende Zielsetzung, die eine solche Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen rechtfertigen kann (hier also die Bekämpfung von Mehrwertsteuerstraftaten), wobei mit den Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen komplementäre Zwecke verfolgt werden müssen. 

  • Die Regelung muss klare und präzise Regeln aufstellen, die es den Bürgern ermöglichen, vorherzusehen, bei welchen Handlungen und Unterlassungen eine solche Kumulierung in Frage kommt.
  • Die Regelung enthält Regeln zur Gewährleistung einer Koordinierung, mit der die zusätzliche Belastung, die sich für die Betroffenen aus einer Kumulierung von Verfahren ergibt, auf das zwingend Erforderliche beschränkt wird und
  • die Regelung sieht Regeln vor, mit denen sichergestellt werden kann, dass die Schwere aller verhängten Sanktionen auf das im Verhältnis zur Schwere der betreffenden Straftat zwingend Erforderliche beschränkt wird.

Der EuGH betont sodann, dass es Aufgabe des nationalen Gerichts sei, sicherzustellen, dass die sich aus der nationalen Regelung ergebende zulässige Kumulierung von Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen und die dadurch entstehende Belastung des Betroffenen nicht außer Verhältnis zur Schwere der begangenen Straftat steht.

Beispiel für eine fehlende Rechtfertigung: Das EuGH-Urteil C-537/16 im Überblick

In einem weiteren Urteil (EuGH, Urteil vom 20.03.2018 – C-537/16) hat der EuGH im Zusammenhang mit Marktmanipulationen zur Einschränkung des ne bis in idem-Grundsatzes Ausführungen gemacht. In diesem Fall hatte die italienische Nationale Unternehmens- und Börsenaufsichtsbehörde eine Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur wegen Marktmanipulation verhängt, obwohl der Betroffene zuvor bereits rechtskräftig strafrechtlich verurteilt wurde. Die Strafe wurde später im Wege der Begnadigung erlassen.

Hier erläutert der EuGH, dass grundsätzlich das Ziel, die Integrität der EU-Finanzmärkte und das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Finanzinstrumente zu schützen, eine Kumulierung von strafrechtlichen Verfolgungsmaßnahmen und Sanktionen strafrechtlicher Natur rechtfertigen könne. Zudem stellt er auch hier erneut die Voraussetzungen für eine Rechtfertigung der Einschränkung des ne bis in idem-Grundsatzes fest, die die nationale Regelung erfüllen muss (Zielsetzung, die dem Gemeinwohl dient, klare und präzise Regeln, Gewährleistung einer Koordinierung, mit der die zusätzliche Belastung auf das zwingend Erforderliche beschränkt wird und Regeln zur Sicherstellung, dass die Schwere der Sanktionen im Verhältnis zur Straftat auf das zwingend Erforderliche beschränkt wird).

Allerdings ist im vorliegenden Fall die nationale Regelung zur Ahndung von Marktmanipulationen nicht verhältnismäßig, da die strafrechtliche Sanktion an sich schon geeignet ist, die Straftat wirksam, verhältnismäßig und abschreckend zu ahnden. Eine darüber hinausgehende Fortsetzung des Verfahrens zur Verhängung einer Geldbuße als Verwaltungssanktion strafrechtlicher Natur gehe über das hinaus, was zur Erreichung des Ziels, die Integrität der EU-Finanzmärkte zu schützen, zwingend erforderlich ist.

Fazit

Jeder Jurist wird sich verwundert die Augen reiben, hat er doch spätestens im 2. Semester der Vorlesung zum Verfassungsrecht gelernt, dass niemand für dieselbe Tat mehrfach verfolgt bzw. bestraft werden darf. Das galt schon im römischen Recht, daher lat. „ne bis in idem“. Dass der EuGH nun im Steuerstrafrecht von diesem verfassungsrechtlich verankerten Grundsatz eine (zugegeben enge) Ausnahme für zulässig hält, ist vor diesem Hintergrund besonders bemerkenswert. Staatsanwälte und Steuerfahnder mögen bereits frohlocken, sollten aber bedenken, dass die vom EuGH bewusst sehr eng gehaltene Ausnahme dadurch ganz sicher nicht zur Regel werden kann. (Steuer-) Strafverteidigern wird in Zukunft noch häufiger die Aufgabe zukommen, den finanziell motivierten Begehrlichkeiten der Staatsanwälte und Steuerfahnder entschieden entgegen zu treten.

LHP Rechtsanwälte Steuerberater sind seit zwei Jahrzehnten im Steuerstrafrecht tätig. Unsere Steueranwälte verfügen als Fachanwälte und Steuerberater über eine Doppelqualifikation im Strafrecht und im Steuerrecht – viele von ihnen sind zudem ehemalige Finanzbeamte. Wir kennen also auch die „andere Seite“ und wissen mit ihr umzugehen. Im Rahmen einer unverbindlichen Erstberatung nehmen wir uns die erforderliche Zeit, um mit dem Mandanten Risiken und Lösungsansätze für seine Probleme herauszuarbeiten und auch auf rechtliche Konsequenzen hinzuweisen. Gerne vereinbaren wir einen zeitnahen Termin – diskret und unverbindlich.

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