Beispiel: Für die Jahre 2014 bis 2017 hat Mandant M bestimmte Einnahmen nicht erklärt, weil diese auf einer Tätigkeit beruhen, die nach Ansicht des BFH steuerbefreit sind. In 2018 ändert sich die Rechtsprechung. Nunmehr geht der BFH von keiner Steuerbefreiung aus. Muss M nun für die Jahre 2014 bis 2017 seine Erklärung um diese Einnahmen gem. § 153 AO berichtigen?
Für das Ob und Wie einer Berichtigung ist zunächst die steuerliche Wahrheitspflicht in den Blick zu nehmen. Die steuerliche Wahrheitspflicht gem. § 150 Abs. 2 S. 1 AO bezieht sich nach ihrem Wortlaut nur auf Tatsachen (BFH v. 25.6.1997 – VIII B 35/96, BFH/NV 1998, 8). Da das Gesetz somit vom Steuerpflichtigen nicht die zutreffende steuerlichen Würdigung verlangt, muss die Finanzverwaltung die Erklärungsvordrucke so formulieren, dass die begehrten Informationen eingefordert werden (Seer in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 153 AO Rz. 11 [Okt. 2018]). Nicht zu verkennen ist allerdings, dass die notwendige Tatsachenbasis nicht von der maßgeblichen Steuerrechtslage zu trennen ist.
Weiterhin ist die Offenbarungspflicht zu beachten. Weitreichende Offenbarungspflichten bestehen nach einem früheren Urteil des BGH vom 19.12.1990, nach welchem sämtliche Tatsachen offenzulegen sind, die steuerrechtlich erheblich sein könnten (BGH v. 19.12.1990 – 3 StR 90/90, BGHSt 37, 266 = MDR 1991, 463). Da eine solche pauschale Anforderung zu Rechtsunsicherheit führen kann, setzt die h.M. diese Rechtsprechung in der Weise um, dass sie von einem typisierten Empfängerhorizont ausgeht. Der Steuerpflichtige muss dem FA die Chance geben, die Tatsachen zu berücksichtigen, die nach dem Empfängerhorizont des FA maßgeblich sind. Hierzu gehören die Umstände, nach denen das FA im Einzelfall oder in Erklärungsvordrucken fragt oder die aufgrund von Verwaltungsvorschriften oder den im BStBl. II veröffentlichen BFH-Entscheidungen maßgeblich sind. Selbstverständlich dürfen nur Fragen gestellt werden, die unmittelbar oder mittelbar für die Sachaufklärung und Subsumtion unter die betreffenden steuerlichen Gesetze von Bedeutung sind.
Der Steuerpflichtige muss der Verwaltungsmeinung nicht folgen. Der 5. Strafsenat des BGH hat entschieden, dass der Steuerpflichtige in seinen Steuererklärungen jede ihm günstige Rechtsansicht vertreten darf (BGH v. 10.11.1999 – 5 StR 221/99, wistra 2000, 137).
Hinweis von LHP: Hierbei sollte der Steuerpflichtige seine rechtliche Würdigung unter Darlegung des Sachverhalts und seiner Rechtsansicht prüffähig offenlegen, um den Vorwurf eines „Versteckspiels“ und einer Hinterziehung zu vermeiden.
Nun zu der interessanten Frage einer Rechtsprechungsänderung. Wenn der oben genannten herrschenden Ansicht vom typisierten Erklärungshorizont gefolgt wird, so würde allein eine Rechtsprechungsänderung – ohne dass sich die Verwaltung diese zu eigen macht – nicht dazu führen, dass die neue Rechtsprechung eine Erklärung unrichtig werden lassen kann. Entsprechend stellte das FG Berlin in einem älteren Urteil fest, dass eine Erklärung nicht dadurch unrichtig i.S.d. § 153 AO wird, dass sich nach Abgabe der Erklärung die einschlägige Rechtsprechung ändert (FG Berlin v. 11.3.1998 – 6 K 6305/93, EFG 1998, 1166, 1169 f., Rz. 98; unklar FG München v. 6.9.2006 – 1 K 55/06, EFG 2007, 161, 162, Rz. 32). Das FG Berlin – so dessen damaliger Name – geht im vorgenannten Urteil davon aus, dass nachträgliche Veränderungen von Rechtsauffassungen entsprechend dem Rechtsgedanken des § 176 AO keine Korrekturpflicht begründen. Für diese Sichtweise spricht, dass § 176 AO eine Ausprägung des Grundsatzes des Vertrauensschutzes ist.
Keine Korrekturpflicht: Zusätzlich ist die fehlende Korrekturpflicht im oben genannten Beispiel nach hier vertretener Ansicht damit zu begründen, dass die Rechtsprechungsänderung keine gesetzesändernde Kraft hat, sondern die Rechtslage nur erkennt. Wenn eine Rechtsansicht der Steuererklärung zugrunde liegt, so kann eine spätere Rechtsprechungsänderung die Vertretbarkeit der Erklärung nur dann entfallen lassen, wenn sie offensichtlich ist. Dann wäre die Rechtsansicht jedoch bereits wohl früher willkürlich und kaum vertretbar gewesen.
Die Steueranwälte von LHP weisen darauf hin, dass eine Berichtigungspflicht im Einzelfall geprüft werden sollte. Es ist misslich, wenn die Zeit vor Anordnung einer Betriebsprüfung nicht genutzt wird, um betriebsintern etwaige Berichtigungspflichten zu klären. Je klarer der Unternehmer hier vor Anordnung einer Betriebsprüfung "durchblickt", desto besser kann er nach Beginn einer Betriebsprüfung schlafen. Wegen der Einzelheiten vgl. Rechtsanwalt Dirk Beyer in AO-StB 2019, S. 122.
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